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Namaste*

Willkommen bei Lyrikzeitung & Poetry News!. Sie finden hier 1. Tageszeitung: Jeden Tag um sechs ein Gedicht 2. Journal #03 Frühjahr 2023 | #02 Frühjahr 2022) | #01 (Morgensternfest, 2021), 3. Archiv: viele tausend Nachrichten seit dem 1. Januar 2001.
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*) Der Begriff setzt sich zusammen aus den Silben nama (verbeugen), as (ich) und té (du). Übersetzen lässt sich Namasté also mit „Verbeugung zu dir“ oder „Ich verbeuge mich vor dir“. Damit drückt man Ehrerbietung aus und erkennt die Anwesenheit des Gegenübers dankbar an. (Google)

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Was Gedichte dürfen

Axel Kutsch

(* 16. Mai 1945 in Bad Salzungen)

Was Gedichte dürfen

In diesem Gedicht sehen Sie
einen Eisberg versinken
und die Passagiere der Titanic
auf den Untergang trinken.

Nach der Ankunft erzählen sie
ihren Verwandten froh:
Stellt euch vor, wir reisten mit
Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.

Doch die Verwandten
fragen sichtlich betroffen:
Ihr seid hier in New York
und nicht abgesoffen?

So ist es, wenn Eisberge
im Wege steh'n:
In Gedichten läßt
man sie untergeh'n.

Aus: Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik. Hrsg. Axel Kutsch. Weilerswist: Ralf Liebe, 2008, S. 171

Hymne

Fuad Rifka

(arabisch فؤاد رفقة , DMG Fuʾād Rifqa; * 28. Dezember 1930 in Kafroun bei Tartus, Syrien; † 14. Mai 2011 in Beirut)

Hymne

Die Sehnsucht der Oliven nach der Ölpresse,
die Sehnsucht der Ölpresse nach den Krügen,
die Sehnsucht der Krüge nach dem Öl,
die Sehnsucht des Öls nach dem Brot,
die Sehnsucht des Brots nach den Händen.
Die Sehnsucht der Erde nach dem Himmel,
die Sehnsucht des Himmels nach der Erde.

Aus dem Arabischen von Stefan Weidner, aus: Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. Hrsg. u. übers. von Stefan Weidner. München: C. H. Beck, 2000, S. 94

Eine Nacht (und ein Kommentar)

Horst Samson 

(* 1954 in Salcâmi, Bărăgan, Volksrepublik Rumänien, lebt in Neuberg, Hessen)

Die Physikerin. Eine Nacht

Sie trug ihre schönste Haut,
Denn es war Sonntagabend. Und sie hatte
Schwarzen Lidschatten unter den Augen.

Ihr hellblaues Kleid war ein Fetzen
Moskauer Himmel im Hotel.
Wir hatten es eilig, rieben

Ungeduldig die nackten Körper
Aneinander, setzten sie in Brand.
Noch nie hatte ich so einen

Sonnenaufgang erlebt. Zurück blieb
Ein Zimmer voller Rauch und Asche.
Eine verlassene Wodkaflasche.

Aus: Ralf-Rainer Rygulla, Marco Sagurna (Herausgeber): Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa. Frankfurt am Main: axel dielmann – verlag, 2022, S. 285

NB: Ich hab heute in dieser Anthologie geblättert und ein Gedicht ausgesucht, aber dennoch eine Anmerkung, nicht zum Gedicht, aber zur Auffindungssituation. Die Herausgeber Ralf-Rainer Rygulla und Marco Sagurna sagen im Untertitel „Poetische Töne aus Europa“. Der Haupttitel aber verweist auf „den Osten“, und in einer Vorbemerkung sagt Sagurna: „Wer keine milden Gedichte oder Partylyrik will, muss ostwärts schauen. Hier finden sich Texte, die als Texte bestehen.“ (ebd. S. 6). Kann man so sehen oder anders. Was aber zeigt die Anthologie? Sie versammelt laut Autorenliste Gedichte aus Osteuropa incl. Türkei, Zypern und den ehemals sowjetischen Republiken, auch die mit Moskaus Segen abtrünnige „Republik“ Abchasien ist dabei, aber ohne Griechenland oder Finnland.

Unter den vertretenen Autor*innen sind auch einige deutschsprachige Autoren, wie Dagmara Kraus (laut Anthologie aus Polen), Horst Samson (Rumänien), Ilma Rakusa (Slowakei) und Jan Faktor (Tschechien). Rakusa lebt seit 1951 (!) in der Schweiz, Samson seit 1987 in der Bundesrepublik, Faktor war Teil der Ostberliner Untergrundszene der späten 70er und der 80er Jahre, Kraus studierte in Deutschland, schreibt auf Deutsch und lebt und arbeitet in Deutschland – Stimmen aus Osteuropa? Die Anthologie gibt leider keine Quellenangaben. Dieses Gedicht von Samson stand in dem Band „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“, er erschien 2014, es ist dort datiert: 2012. Osteuropa? Der Wikipediaartikel über Samson sagt, er sei ein „rumäniendeutscher Schriftsteller und Journalist“ – ach wirklich? Geht es im Literaturbetrieb nach dem Abstammungsprinzip, wie man in manchem Provinzkaff streng zwischen „Eingeborenen“ und „Zugezogenen“ (selbst wenn die seit Jahrzehnten dort leben) unterscheiden mag? (Zugezogen, wo habe ich das zuletzt gelesen, ach ja, Brief des Liedermachers Wenzel in einer uralten Tageszeitung mit dem Titel „junge Welt“, in dem er behauptet, gegen ihn sei ein Auftrittsverbot verhängt, und den „Zugereisten“ trotzig zuruft: „Was wisst Ihr über die DDR?“ So in der genannten Zeitung am 4. Mai.)

Ja, das meine ich. Weg mit den Schubladen. Rakusa, Faktor, Samson, Kraus & Co. sind deutsche Autoren. Man soll ihre Arbeit aus ihren Texten beurteilen, nicht aus irgendeiner „Osteuroparomantik“ oder welcher mythischen „Identität“ auch immer.

Mitherausgeber Marco Sagurna verweist darauf, dass der Band sehr wohl exakte Quellenangaben enthält. Das ist richtig und ich bedaure meinen Fehler. Außerdem betont er, dass in der Anthologie nirgends von „Autor*innen aus Osteuropa“ die Rede ist, sondern von Autor*innen, „die ihre Wurzeln in Osteuropa haben“. Das ist formal korrekt, obwohl die Mehrheit vermutlich doch aus Osteuropa stammt und dort lebt. Meine Skepsis gegen die Aussage, „Wer keine milden Gedichte oder Partylyrik will, muss ostwärts schauen“, bleibt indes bestehen. Und wer zum Beispiel Gedichte von Samson lesen will, muss eher westwärts schauen, wo Samson und sein Verleger wohnen. Und dass jemand, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und überwiegend dort veröffentlicht, ein deutscher Autor ist und nicht, wie Wikipedia in diesem Fall meint, ein rumäniendeutscher, das bleibt meine Meinung.

Ein Schatten

Eugenio Montale

(* 12. Oktober 1896 in Genua; † 12. September 1981 in Mailand) 

Xenien 13

Dein Bruder starb sehr jung, du warst
das strubbelige Mädchen, das mich ansah
»in Pose« vom Oval eines Porträts.
Er komponierte Unerhörtes, Ungehörtes,
Stücke, die heute in irgendeiner Truhe liegen,
Makulatur geworden. Vielleicht erfindet jemand
sie unbewußt neu, wenn das Geschriebene geschrieben bleibt.
Ich mochte ihn, ohne ihn je gekannt zu haben.
Außer dir erinnerte sich niemand mehr an ihn.
Ich habe nicht recherchiert: Nun ist es zwecklos.
Nach dir bin ich der einzige, für den
es ihn gegeben hat. Doch man kann, du weißt,
auch einen Schatten lieben. Die wir selber Schatten sind.

Aus dem Italienischen von Theresia Prammer. In: Sinn und Form 3/2024, S. 316

Man lerne, was auftaucht

Das lyrische Ich dieser Texte ist nicht humanes Deutungszentrum, sondern schmerzempfindliche Membran, „Erinnerung der Erde“, zufälliger Kreuzungspunkt, Echo oder Spiegelreflexion. Viele dieser Gedichte lesen sich wie Lehrstücke zum Verlernen der abendländischen Subjektivität, wie Anleitungen hin zu einem anderen Blick, einem Blick vom Anderen, Nicht-Menschlichen aus.

Christian Filips, Nachwort zu Ágnes Nemes-Nagy: Mein Herz: ein See.
Man lerne

Man lerne. Winterbäume.
Wie sie im Raureif stehen.

Man lerne. Sommerwolken.
Wie Himmelswälder glühen.

Man lerne Honig, Walnuss,
Raumschiff und Pappelbaum,

Wörter wie Montag, Hétfő,
Kedd und Freitag auch,

Ungarisch, alle Sprachen,
man lerne, was auftaucht.

Was leuchtet, Zeichen gibt:
Man lerne, was man liebt.

Deutsch von Christian Filips und Orszolya Kalász, aus: Ágnes Nemes Nagy, Mein Hirn: ein See. roughbook 056. Berlin, Budapest und Schupfart 2022, S. 41

Auch hier eine automatische Übersetzung von Google:

Screenshot
Tanulni kell

Tanulni kell. A téli fákat.
Ahogyan talpig zuzmarásak.

Tanulni kell. A nyári felhőt.
A lobbanásnyi égi-erdőt.

Tanulni kell mézet, diót,
jegenyefát és űrhajót,

a hétfőt, keddet, pénteket,
a szavakat, mert édesek,
tanulni kell magyarul és világul,
tanulni kell mindazt, ami kitárul,

ami világít, ami jel:
tanulni kell, szeretni kell.

Bäume lernen

Die ungarische Lyrikerin Ágnes Nemes Nagy las ich, mit angehaltenem Atem, in den 80er Jahren in der Nachdichtung Franz Fühmanns. Vor zwei Jahren frischte eins der roughbooks Urs Engelers die Lektüre auf, es gab Wiedererkennbares, vor allem aber Neues. Ich hatte für heute eins der Gedichte aus dem neueren Band in der Übersetzung und Nachdichtung von Christian Filips und Orsolya Kalász ausgesucht, aber dann erinnerte es mich an etwas, was ich aus Fühmanns Band zu kennen glaubte. Das erste Gedicht des DDR-Inselbändchens von 1986, damals wieder und wieder gelesen, war auf einmal so ähnlich, dass ich für möglich hielt, es könnte eine stark abweichende Fassung desselben Gedichts sein. Von der Dichterin aufgegriffen und verändert? Vom Nachdichter so anders aufgefasst? Man vergleiche die Anfänge:

Bäume im Frost. Ihr Schüler sein.
Rauhreif hüllt bis zum Fuß sie ein.

(Fühmann 1986)

Man lerne. Winterbäume.
Wie sie im Raureif stehen.

(Filips / Kalász 2022)

Tatsächlich erlaubt (und erfordert) der andersartige, agglutinierende Sprachbau des Ungarischen unterschiedliche Ansätze. Es sind tatsächlich zwei Gedichte, aber die ersten Zeilen sind identisch. Die neue Ausgabe übersetzt beide Gedichte, sie stehen sogar direkt nacheinander, und weil das roughbook dankenswerterweise alle Gedichte zweisprachig abdruckt (in dem Inselband gab es nur wenige Proben des Originals), konnte ich das Mysterium teilweise durchdringen. Ich habe mich nun entschieden, beide Gedichte zu bringen und beginne mit dem einen Gedicht, das beide übersetzt haben.

Die Bäume

Bäume im Frost. Ihr Schüler sein.
Rauhreif hüllt bis zum Fuß sie ein.
Ein Vorhang, der sich nicht bewegt.

Erlernen muß man jene Säume,
wo der Kristallglanz sich beschlägt
und der Baum in den Nebel schwimmt
wie ein Leib in Erinnerungen.

Unten der Fluß, der sich nicht regt,
der Ente stummer Flügelschlag
und die blindweiße, blaue Nacht,
drin Dinge mit Kapuzen stehen.
Erlernen muß man, was die Bäume
schweigend vollbringen Tag um Tag.

Deutsch von Franz Fühmann, aus: Ágnes Nemes Nagy, Dennoch schauen. Gedichte. Leipzig: Insel, 1986, S. 7

Bäume

Man lerne. Winterbäume.
Raureif, von Wurzel bis Krone.
Vorhänge, unbeweglich.

Man lerne auch die Zone,
in der Kristall verdampft,
dass Bäume Nebel werden
wie im Gedächtnis die Körper.

Die Flüsse hinter Bäumen,
Wildenten still im Flug,
in blauer Nacht, schneeblind,
Vermummtes, das sich zeigt,
man lerne auch die Taten
der Bäume, ungesagt.

Deutsch von Christian Filips und Orszolya Kalász, aus: Ágnes Nemes Nagy, Mein Hirn: ein See. roughbook 056. Berlin, Budapest und Schupfart 2022, S. 39.

Ich hänge noch eine automatische Übersetzung von Google dran.

Fák

Tanulni kell. A téli fákat.
Ahogyan talpig zúzmarásak.
Mozdíthatatlan függönyök.

Meg kell tanulni azt a sávot,
hol a kristály már füstölög,
és ködbe úszik át a fa,
akár a test emlékezetbe.

És a folyót a fák mögött,
vadkacsa néma szárnyait,
s a vakfehér, kék éjszakát,
amelyben csuklyás tárgyak állnak,
meg kell tanulni itt a fák
kimondhatatlan tetteit.

Ebd. S. 38

Mond

Heute vor 30 Jahren starb der niederländische Dichter und Künstler Lucebert (* 15. September 1924 in Amsterdam; † 10. Mai 1994 in Alkmaar), der Mitglied der Künstlergruppe COBRA war. Im September kann man seinen 100. Geburtstag begehen. Wir üben schon mal.

mond

großes blankes gesicht sonniger wind
ich sehe der erschreckten sterne herzen
aufgehen untergehen und auch
die allzeit brennend küssende
marmorfrucht deines mundes dazwischen

Aus dem Niederländischen von Rosemarie Still, aus: Lucebert: Die Silbenuhr. Ausgewählte Gedichte und Zeichnungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, S. 32.

Papiersoldat

Heute vor 100 Jahren wurde Bulat Okudschawa (Булат Шалвович Окуджава) in Moskau geboren. Sein Name ist Georgisch, aber aufgewachsen ist er in Moskau mit Russisch als Muttersprache. Seine Lieder und Gedichte waren ungeheuer populär, und ich frage mich, ob die russischen Soldaten im Krieg auch seine Lieder über den Krieg und den Soldaten singen? Ach schickt mich ins Feuer, ins Feuer!!! Vielleicht mit jener „russischen Seele“, die mir fehlt, wie mir seit 2014 mehr als einmal von Russen gesagt wurde, deren Meinung ich widersprach.

Das Lied vom Papiersoldaten im Original und in einer Adaptation durch Adolf Endler. Danach das Lied vom Autor gesungen, und als Zugabe Ekkehard Maaß aus der Zionskirche vom Anfang April.

Es lebte einmal im Land ein Soldat, herrlich anzuschaun, kühner als wir, wenn auch leider nur als so ’n Spielzeugsoldat, aber ja: ein Soldat aus Papier. –//– Ganz, ganz anders werden sollte die Welt, folglich jedermann glücklich in ihr! Dabei hing er selbst an ’nem Bindfaden nur, aber ja: ein Soldat aus Papier. –//– Nach Qualm und Feuer verzehrte er sich und drei Heldentoden (Klavier!) … Da habt ihr euch über ihn lustig gemacht: Eh, der ist ja nur aus Papier! –//– Und wirklich Wichtiges habt ihr ihm nie, nie anvertraut nach Gebühr! Und weshalb das? Na, klar: Er war zwar Soldat, aber leider total aus Papier. –//– Er hörte nicht auf zu betteln – o Fluch dem Spießerschicksal, dem täglichen Bier! –; er bettelte: Schickt mich ins Feuer, ins Feuer endlich, ins Feuer, ins Feuer!!! …, als wär‘ er Asbest statt Papier. –//– Ins Feuer? Na, bitte gleich!, bitte, gern! – Und so wagte er’s, einszweidreivier … Und war im Augenblick hin!, und für nix! Aber ja: ein Soldat aus Papier.

Aus: Bulat Okudshawa: Romanze vom Arbat. Lieder, Gedichte. Mit Noten, Abbildungen, Originaltexten, einem Interview und einer Schallplatte. Hrsg. Leonhard Kossuth. Berlin: Volk und Welt, 1985, S. 302 (darin gibt es auch zwei weitere Versionen).

Песенка о бумажном солдате

Один солдат на свете жил,
красивый и отважный,
но он игрушкой детской был, –
ведь был солдат бумажный.

Он переделать мир хотел,
чтоб был счастливым каждый,
а сам на ниточке висел, –
ведь был солдат бумажный.

Он был бы рад – в огонь и в дым,
за вас погибнуть дважды,
но потешались вы над ним, –
ведь был солдат бумажный.

Не доверяли вы ему
своих секретов важных.
А почему? а потому,
что был солдат бумажный.

А он, судьбу свою кляня,
не тихой жизни жаждал
и всё просил: »Огня, огня!«
забыв, что он бумажный.

В огонь? Ну, что ж. Иди! Идешь?
И он шагнул однажды.
И там погиб он ни за грош, –
ведь был солдат бумажный.

Hobellied

Ferdinand Raimund

(* 1. Juni 1790 in Wien-Mariahilf; † 5. September 1836 in Pottenstein)

HOBELLIED

Da streiten sich die Leut herum
Oft um den Wert des Glücks,
Der eine heißt den andern dumm,
Am End weiß keiner nix.

Da ist der allerärmste Mann
Dem andern viel zu reich.
Das Schicksal setzt den Hobel an
Und hobelt s' beide gleich.

Die Jugend will halt stets mit G'walt
In allen glücklich sein,
Doch wird man nur ein bissel alt,
Da find' man sich schon drein.

Oft zankt mein Weib mit mir, o Graus!
Das bringt mich nicht in Wut.
Da klopf ich meinen Hobel aus
Und denk, du brummst mir gut.

Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub
Und zupft mich: Brüderl, kumm!
Da stell ich mich in Anfang taub
Und schau mich gar nicht um.

Doch sagt er: Lieber Valentin!
Mach keine Umständ! Geh!
Da leg ich meinen Hobel hin
Und sag der Welt Adje.

Aus: Und in der Nacht ein Licht. Hundert Trost-Gedichte. Herausgegeben von Jürgen Engler. Berlin: Aufbau, 2010, S. 18

Der eine heißt den andern dumm,
Am End weiß keiner nix.

Bild: Nona

Braun Shakespeare 66

Zum 85. Geburtstag des sächsischen Dichters Volker Braun hier seine „Interlinearversion“ von Shakespeares Sonett 66. Darunter das Original.

Volker Braun 

(* 7. Mai 1939 in Dresden)

SHAKESPEARE INTERLINEAR

Ich bin es müde und will meine Ruhe.
Statt anzusehn, wie Leistung betteln geht
Und Dürftigkeit sich trimmt zu Festtagsschmu
Und Selbstvertraun nicht zu sich selber steht
Und Ehrenspangen schamlos mißplaciert
Und Jugendgradheit rasch verkommen muß
Und wahres Können in den Dreck geschmiert
Und Stärke absackt in den Machtgenuß
Und Kunst von hohen Stellen stumm gemacht
Und Dummheit (amtlich) kontrolliert den Geist
Und bloße Wahrheit als naiv verlacht
Und der Geführte folgt der Führung dreist:
All dessen müde, wünscht ich, daß ich wegwär.
Nur fänd ich, ging ich, keine Liebe mehr.

Aus: Volker Braun, Texte in zeitlicher Folge, Band 6 (… Verstreute Gedichte 1969-1978 …). Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1991, S. 69

William Shakespeare

Sonett 66

Tired with all these, for restful death I cry,
As to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm'd in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And gilded honour shamefully misplac'd,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgrac'd,
And strength by limping sway disabled
And art made tongue-tied by authority,
And folly—doctor-like—controlling skill,
And simple truth miscall'd simplicity,
And captive good attending captain ill:
Tir'd with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.

Recht auf Verspätung

Kenah Cusanit 

(geboren 1979 in Blankenburg (Harz))

1979

etabliere ein Recht auf Verspätung durch Zuspätkommen.
du hast ein Recht, zu spät zu kommen. dieses Recht ist
angestammt. du stammst ab und du stammst an. du hast
das Recht, 37 Jahre später zu spät auf eine Hochzeit zu
kommen. ist ja nicht deine eigene. du hast das Recht, zu spät
ins Standesamt zu kommen. die Berliner Beamtin wird eine
österreichische Schauspielerin zitieren. du hast das Recht
den Kopf zu schütteln. die ostwestfälische Verwandtschaft
hat das Recht, Photos zu machen. du könntest mal nach
Ostwestfalen fahren und zu spät in Ostwestfalen ankommen.

Aus: Jahrbuch der Lyrik 2017. Hrsg. Christoph Buchwald und Ulrike Almut Sandig. Frankfurt/Main: Schöffling, 2017, S. 70

Contemplate the notion of purposely arriving late to East Westphalia

Briefverkehr

Michael Spyra

Der Briefverkehr

Sie schreibt ihn an, und er fängt an zu lesen,
was sie ihm schreibt und ist kurz abgelenkt,
von dem, was sie ihm schreibt und wie sie denkt.
Das gab es so. Das war einmal gewesen.

Das wäre noch, schreibt sie ihm unverhohlen.
Er lässt die Arbeit liegen, widmet sich
dem Schreiben, antwortet geflissentlich
mit Buchstaben und anderen Symbolen.

Sie schreiben, wie sie es am liebsten täten.
Der Rest des Tages schrumpft auf diesen Kern.
Der Rest der Welt liegt unerreichbar fern.
Dann prahlen sie mit ihren Qualitäten.

Sie kriegen kalte Hände, werden fiebrig,
nervös und fahrig, zeigen sich robust,
doch finden kein Ventil für ihre Lust.
Sie sind besinnungslos erregt und gierig.

Sie sind berauscht von sich und ihrer Sprache,
von ihrem Sex, der durch die Worte strahlt.
Dann haben sie genug, genug geprahlt
aus der ansonsten grauen Alltagsbrache.

Aus: Michael Spyra, Die Berichte des Voyeurs. 100 Liebesgedichte. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2021, S. 96

alles Mögliche widerspricht sich

Martín Gambarotta 

(* 1968 in Buenos Aires)

Ich sage dass ich sa 
ge dass ich sa
ge dass man an

zwei Orten gleich
zeitig sein kann
aber nicht an zwei
Orte gleichzeitig
zurückkehren

alles Mögliche ist nicht
an seinem Platz
alles Mögliche
widerspricht sich
Digo que di 
go que di
go que se puede

estar en dos lugares
al mismo tiempo
pero no volver
a dos lugares
al mismo tiempo

cada cosa no ocupa
su lugar
cada cosa en estado
de contradicción.

Aus: Martín Gambarotta: Pseudo. Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger. Berlin: Brueterich Press, 2017, S. 137

Gedichte von Martín Gambarotta auf Lyrikline

Jehuda Amichai (1924 – 2000)

Jehuda Amichai (Geboren am 3. Mai 1924, heute vor 100 Jahren, in Würzburg als Ludwig Pfeuffer. Er entkam, änderte 1946 seinen Namen in יהודה עמיחי, Amichai = hebr. „Mein Volk lebt“, und wurde ein hebräischer Dichter. Gestorben am 22. September 2000 in Jerusalem)

Schade, wir waren so eine gute Erfindung

Man amputierte
deine Schenkel von meinen Hüften.
Was mich angeht,
so waren das alles Chirurgen. Alle.

Sie nahmen uns auseinander,
jeden vom anderen.
Was mich angeht,
so waren das alles Mechaniker. Alle.

Schade. Wir waren so eine gute,
liebenswerte Erfindung. Ein Flugzeug aus Mann und Frau,
Flügel und alles:
Wir hoben sogar ein bisschen ab von der Erde
und flogen ein wenig.

Aus dem Hebräischen von Hans D. Amadé Esperer, aus: Jehuda Amichai, Gedichte. Würzburg: Könighausen & Neumann, 2018, S. 26. Das Gedicht ist aus dem Band Jetzt im Aufruhr. Gedichte 1963-1968. Jerusalem: Schocken, 1969

( עכשיו ברעש, ירושלים: שוקן, 1969 )

A Pity, We Were Such a Good Invention

They amputated
Your thighs off my hips.
As far as I'm concerned
They are all surgeons. All of them.

They dismantled us
Each from the other.
As far as I'm concerned
They are all engineers. All of them.

A pity. We were such a good
And loving invention.
An aeroplane made from a man and wife.
Wings and everything.
We hovered a little above the earth.

We even flew a little.

Englisch von Assia Gutmann, aus: The Poetry of Yehuda Amichai. Edited by Robert Alter. New York: Farrar, Strauss and Giroux, 2017, S. 104

Lesezeichen aus der Buchhandlung Tolaat Sfarim (Bücherwurm) in Tel Aviv

Dantes Socken

Miron Białoszewski 

(* 30. Juni 1922 in Warschau; † 17. Juni 1983 ebenda)

ich öffne die Tür, sie quietscht 
ein Flüstern: „dieser Schrank ist der Eingang zur Hölle"
da seh ich: zwischen den Bügeln
das rote Kleid und die schwarzen Socken
von Dante

Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus, aus: Mütze #19, S. 981

otwieram jej drzwi, skrzypią 
i szept: „ta szafa to wejście do piekła"
patrzę: między wieszakami
czerwona suknia i czarne skarpetki
Dantego

Ebd. S. 980