Alter Professor

Theodor Kramer 

(* 1. Jänner 1897 in Niederhollabrunn, Österreich; † 3. April 1958 in Wien)

Der alte Gelehrte

Für meine Schüler halt ich offen Haus;
sie kommen immer noch zu mir heraus,
sie kommen nicht, um mir Gesell zu sein,
sie kommen nur zu meinem guten Wein.

Oft kommen sie zu ungewohnter Zeit,
um mir zu sagen, wie ihr Werk gedeiht;
sie kommen nicht um Rat für ihre Seel,
sie kommen nur, damit ich sie empfehl.

Die Foliobände schaun auf mich vom Bord:
schüf er an seinem großen Buch noch fort,
er stellte neben uns manch neuen Kauf
und spielte nicht als unser Freund sich auf.

Aus: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte. Hrsg. Erwin Chvojka. Band 1. Wien, München, Zürich: Europaverlag, 1984, S. 505. – Laut Angaben in dieser Ausgabe (a.a.O. Bd. 3) trug das Gedicht auch den Titel „Der alte Professor“. Es wurde aus einem stark überarbeiteten Manuskript ediert. Für die Frankfurter Anthologie der FAZ interpretierte Jan Philipp Reemtsma das Gedicht. Übrigens sollen tausende Gedichte Kramers bis heute unveröffentlicht sein.

Zwei Tränen

Hadasa Rubin ist eine jiddische Dichterin aus einer Gegend, die nacheinander zu Russland, Polen und der Ukraine gehörte. Sie wurde 1911 oder 1912* in Jampol bei Krzemieniec (Russisches Reich, heute Jampil, Ukraine) in einer jüdischen Familie geboren. 1921 zog die Familie nach Zbarazh (Galizien, damals polnisch) und später nach Kremenez, wo sie die Hochschule abschloss. Sie wurde Mitglied der Kommunistischen Partei und kam für ihre Aktivitäten für ein paar Jahre in ein polnisches Gefängnis. 1932 ging sie nach Wilna, wo sie in der Zeitschrift Der tog debütierte und der Schriftstellergruppe Jung Wilne beitrat. Sie überlebte den Zweiten Weltkrieg im sowjetischen Kirgisien. 1946 kehrte sie nach Polen zurück und ließ sich in Stettin nieder, wo sie Sekretärin des Jüdischen Kulturvereins und 1950-1952 Vorsitzende der Stettiner Zweigstelle des Sozial- und Kulturvereins der Juden in Polen war. 1953 zog sie nach Warschau, wo sie journalistisch und literarisch tätig war, u.a. 1956-1959 als Mitarbeiterin der Zeitschrift Jidische schriftn. 1960 emigrierte sie nach Israel, wo sie in einem Vorort von Tel Aviv lebte. Später ging sie nach Haifa, wo sie 2003 starb. Einige Gedichte wurden ins Polnische, Hebräische, Englische und Deutsche übersetzt (deutsch in der wichtigen Anthologie Der Fiedler vom Getto. Jiddische Dichtung aus Polen. Leipzig: Reclam, 1968, 2. Aufl.). Sie erhielt mehrere Literaturpreise, darunter den Dovid-Hofschtejn-Preis.

*) Die Eltern konnten sich nicht genau erinnern.

(mehr im Lyrikwiki)

zwei trern

di lewone oif jener seit moier
is ganz.
ich weiß:
zu mein fenzter wet si dergein
schoin a zebrochene.
nor di trer mis bleibn
keilechdik un ganz ,
asoi wi di lewone
oif jener seit moier.
koim rirstu si on,
wet si, di trer,
wi kweksilber zeschpaltn sich
un mein oig weln bri-en
zwei trern.
Zwei Tränen

Der Mond auf der anderen Seite der Mauer
ist ganz.
Ich weiß:
Wenn er zu meinem Fenster gelangt
wird er zerbrochen sein.
Aber die Träne muss bleiben
rund und ganz,
so wie der Mond
auf der anderen Seite.
Kaum berührst du sie,
wird sie, die Träne,
wie Quecksilber zerplatzen
und zwei Tränen
werden meine Augen verbrühen.
Mond, Lewone, ist im Jiddischen weiblich.

(Meine Übersetzung)

Postkarte

Charles Simic

(* 9. Mai 1938 in Belgrad, Königreich Jugoslawien; † 9. Januar 2023 in Dover, New Hampshire)

Postkarte aus S.

Bisher habe ich hier zwei Homere und einen Vergil getroffen.
Die Stadt ist wie eine lebende Anthologie antiker Literatur.
Fast jeden Nachmittag Donner und Blitz.
Wenn Nachbarn sich treffen, schlagen sie die Mücken
Auf der Stirn des andern tot und gehen weiter, mit rotem Gesicht.

Ich liege in einer Hängematte bei einem brennenden Stall
Und beobachte eine Birke im Hof.
In der einen Minute kämpft sie mit Wind und Rauch,
In der nächsten hebt sie die Fäuste zum Fluch auf die Götter.
Das macht sie natürlich zu einem Trojaner
Für die Griechen, die auf einem Feuerwehrauto anrücken.

Aus: Charles Simic: MEIN LAUTLOSES GEFOLGE. Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Meier. München: Lyrik Kabinett, 2006, S. 82

Tanzt Tanzt

Jerome Rothenberg 

(* 11. Dezember 1931 in New York City)

auf der Hauptstraße 
die Kirchenecke:
Ansichten
TANZT TANZT wie
die Verrückten – die Christenfrau hat Euch gerufen –
wie Rothäute aus Schaubuden
Tiere
     können krauchen
über den Boden o Ihr kriechenden
Götter  Eure hässlichen Fratzen  schrammen
über die Schildkrötenpanzer
(Rasseln)
den Boden des Langhauses hinunter
on main street 
corner of the church:
reflections
DANCE DANCE like
freaks—the Xtian lady calls you—
like sideshow injuns
animals
       can glide along
the earth o you reptilian
gods     you twisted faces    scraping
those turtle bodies
(rattles)
down longhouse floor

Aus: Jerome Rothenberg: A Seneca Journal (1978). Ein Seneca-Journal. Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Felicitas Tax und Norbert Lange. Berlin: Moloko Print, 2022, S. 136f.

Klappentext:

Rothenberg zählt als Lyriker und Essayist, Übersetzer und Herausgeber sowie Literaturwissenschaftler und Dozent zu den bedeutendsten US-amerikanischen Kulturschaffenden und -vermittlern der Gegenwart. Seine Arbeit schließt dabei die Pflege der historischen Avantgarden ebenso ein wie die Erforschung frühester Schriftzeugnisse jüdischer Dichtung oder der mündlichen Poesie der Ureinwohner Amerikas und anderer Weltteile. Ein zentraler Begriff in seinem Werk ist die »Grand Collage« (R. Duncan); eine Dichtung, in der Zeiten und Völker gleichberechtigt miteinander kommunizieren. Rothenberg prägte gemeinsam mit anderen Autoren dafür den Ausdruck der Ethnopoesie, einer den Brückenschlag zwischen den Kulturen suchenden Interdisziplin. Auf Deutsch erschienen zuletzt in Urs Engelers roughbooks-Reihe »Polen/1931« und bei Hochroth Berlin der Band »Rituale & Events« (beide 2019).

Elke Erb † 22. Januar 2024

Die Dichterin Elke Erb ist gestorben. Unter den nicht wenigen Zeilen aus ihren Gedichten, die mir im Kopf spuken, fällt mir als erste der Anfang des ersten Gedichts ein, das ich von ihr las. Es war wahrscheinlich im Herbst 1970, ich war Student in Rostock DDR, die Dozentin las ein Gedicht vor, ich erinnere ihren Tonfall:

Das Flachland vor Leipzig ist kahl, 
als läge xx auf ihm auf

So erinnere ich mich oft, zu xx gibt es Varianten im Gedächtnis. Die Dozentin schien ratlos, es kam mir so vor, als wollte sie das Gedicht anschuldigen wegen ihrer Ratlosigkeit, aber ich bin ihr dankbar, dass sie neue Lyrik in den Kurs brachte. Ich kaufte damals die Anthologie, aus der sie las. Verstand ich das Gedicht? Ich las es wieder und wieder, es passiert was im Gedicht. Es handelt nicht ein Thema ab, wie die Jahreszeitengedichte und die politischen Gedichte aus dem Schulunterricht. Es sagt etwas, und beim Sagen fällt es sich in die Gedanken, ein neues Thema taucht auf, dem die Gedanken nachgehn. Hier ist es ein Landschaftsbild (ich bin selbst im Flachland vor Leipzig aufgewachsen), ein Vergleich stellt sich ein „als läge“, der Vergleich provoziert den nächsten Vergleich, das Gelb der Wegweiser, „wie Briefkästen“, „oder wie Tabak“, schon gehn die Gedanken in andere Richtung. Drei Pünktchen… Eine Erinnerung, ein Dorf im Flachland, „dort sah mich still eine Gans an“, ihre Augen rufen „Wissen“ auf, bei dem bleibt es nicht, weil die Bilder, die Wörter, die Gedanken im Fluss sind. Später fand ich das immer wieder, ich bleibe mal beim bisherigen Material, wenn etwas „auftaucht“, kommt womöglich ein Tauchgang, und wenn die Gedanken „nachgehn“, ist das Uhrwerk nicht fern, in der Mitte des Gedichts passiert es mit dem Wort „aufgezogen“, das ohne Absicht die Uhr ins Spiel bringt und die Gedanken weitertreibt.

Das Flachland vor Leipzig

Das Flachland vor Leipzig ist kahl,
als läge der Mittag streng auf ihm auf.
Hecken, die Gräben, Buschgekräusel und Baum
Wegweiser, gelb wie Briefkästen, staubig,
oder wie Tabak daher, der fällt
einem Alten krümelnd aufs Knie …
Ich war mal in Tüschen, dort sah
mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß
an einer feuchten Scheune vorbei.
Links, sah mich an, links, und ihr wißt, das Auge
ist starr, grün beringt.
Aber was wollte sie melden, aus ihren fernen
Steinzeiten kommend, die Gattung, aufgezogen immer, Uhr,
immer die gleiche, sich gleiche, die Uhr
an vergänglichen Wänden, aber was dann,
wenn keine Wände mehr stehn, keine gebaut werden, wenn
der riesige Erdwind allein
in den Staub stürzt und heult?
Uhren, ihr Uhren, wer sorgt,
daß ihr euch nicht totschlagt am Ende, wer sorgt?
Ich war mal in Tüschen, dort sah
mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß.

Hier aus ihrem ersten Buch: Elke Erb: Gutachten. Poesie und Prosa. Berlin und Weimar: Aufbau, 1975, S. 23.

Ein Zitat zum Schluss. Nein, kein Schluss.

Ist Poesie unerklärlich?


Erb: Ich bin gegen diese Behauptung. Ich erlaube sie nicht. Ich habe eine Regung, ich begegne dieser Regung aufmerksam, beobachte sie, folge ihr. Diese Regung entspringt doch aber einem ganz normalen Ich, ist doch nicht schon Poesie selber, Poesie ist nicht unerklärlicher als irgend etwas anderes Lebendiges. Hinter der Behauptung, sie sei unerklärlich, steckt der Anspruch einer tötenden Auflösung. Oder eine Diffamierung des Erklärens.

(Interview mit Elke Erb in der Zeitschrift L’image, März 92, in: Der wilde Forst, der tiefe Wald. Auskünfte in Prosa. Göttingen 1995. S. 222)

Der Fäulnis Chemien

Georg Trakl 

(* 3. Februar 1887 in Salzburg; † 3. November 1914 in Krakau, Galizien)

EMPFINDUNG

Der Fäulnis Chemien fliessen im Grau,
In golddurchwirktem Laubgewirr,
Wo Falter flimmern berauscht und irr,
In Weihrauchdünsten vergilbt und lau.

Hellsonnig schäumt es im Gräbergrund
Und neue Säfte steigen ins Laub.
Ich atme Klänge und silbernen Staub,
Den Mittag glühend und gesund.

Aufflutet ungeahnter Glanz
Und löschet Inschrift und Gestein,
Das rührend ragt im wilden Wein,
Umgaukelt von der Mücken Tanz.

Aus dem Nachlass (Sammlung Richard Buhlig 1912), aus: Georg Trakl, Dichtungen und Briefe. Hrsg. Hans Weichselbaum. Salzburg, Wien: otto Müller, 2020, S. 325

Das chinesische Mädchen im Wartesaal

Charles Reznikoff

(* 30. August 1894 in Brooklyn, New York; † 22. Januar 1976)

Am Brunnen von Leben und Sehen. II, 11

Das chinesische Mädchen im Wartesaal des hektischen Bahnhofs
schreibt auf ihrem Block
in Spalten,
als würde sie Zahlen notieren,
nicht Worte –
Worte in blauer Tinte,
wie kleine Blumen,
stilisiert in Quadrate:
Sie bepflanzt ihren kleinen Garten.

(1969)

Deutsch von Tobias Amslinger, aus: Schreibheft #87, August 2016, S. 110.

Hier das Original vom Autor vorgelesen

Hier der englische Text nach Gehör abgeschrieben:

The Chinese Girl in the waiting room of the busy railway station, 
writing on a pad
in columns,
as if she were adding figures,
instead of words
words in blue ink,
that looked like small flowers
stylized into squares.
She is planting a small private garden

Mehr Gedichte (Englisch)

Liebeselend

Ich fange gleich mal mit dem Kalender an. Heute vor 251 Jahren starb Alexis Piron. Ein französischer Dichter, der seine Stelle als Anwalt in der Provinz wegen eines Gedichts verlor. Naja – wegen eines pornographischen Gedichts. Er ging nach Paris, befreundete sich mit Diderot und Lesage, wurde von Voltaire gelobt und von Rameau vertont, aber als er Mitglied der Akademie werden sollte, erinnerten sich die Pfaffen an seine Jugendsünde und erwirkten beim König ein Veto. Im Alter schrieb er dafür geistliche Lyrik, auch gut.

Die „Ode à Priape“ wurde von „keinem Geringeren“ als dem Homerübersetzer Johann Heinrich Voß verdeutscht („An Priap“). Die Texte finden sich im WWW. Hier ein weniger priapisch denn anakreontisches Gedicht.

Alexis Piron

(* 9. Juli 1689 in Dijon; † 21. Januar 1773 in Paris)

LIEBESNÖTE

Wie lächerlich und dumm der Mann ist,
Kommt plötzlich ihn die Liebe an!
Erst fühlt er Bangen und verstellt sich
Und fängt dann lang zu seufzen an.

Wagt er's, sich endlich zu erklären,
Schmollt man und will die Spröde sein:
Tut nichts! Man möcht beharrlich bleiben,
O Sorge, Sehnsuchtsschmerz und Pein!

Sie liebt ihn: Doppelt schwere Kette!
Wie viel drängt uns vom Glück doch weg:
Zerwürfnis, Stimmungswechsel, Vater
Und Mutter, Gatte – welch ein Schreck.

Ist's alles? Nein, es bleibt die Würde,
Die Würde, Gegner aller Lust,
Man glaubt zu siegen, ist Besiegter,
Entzweit sich und versöhnt sich just.

Naht ein Rival, o neue Bürde!
Der Schlaf flieht unser Aug', man wacht
Vor Eifersucht, ist unstet immer,
Hat Unruh nur bei Tag und Nacht.

Ist's dann genug des Schrein's und Tobens,
Beschließt ein Kuß, was da sich tat:
Das Feuer lischt, bald hast du's über;
War denn die Wiese wert die Mahd?

Aus dem Französischen von Max Rieple, aus: Lilie und Lorbeer. Französische Dichtng des 15. bis 18. Jahrhunderts. Übertragungen von Max Rieple. Freiburg i. Br.: Hermann Klemm, o.J. (1958), S. 141ff

LES MISÈRES DE L'AMOUR 

QUE l'homme est sot et ridicule,
Quand l'amour vient s'en emparer!
D'abord il craint, il dissimule,
Ne fait longtemps que soupirer.

S'il ose enfin se déclarer,
On s'irrite, on fait l'inhumaine :
N'importe, il veut persévérer;
Que de soins, d'ennuis et de peine!

On l'aime : tant pis! double chaîne.
Mille embarras dans son bonheur.
Contretemps, humeur incertaine,
Père, mère, époux, tout fait peur.

Est-ce tout? Non : reste l'honneur,
L'honneur du plaisir l'antipode.
On veut le vaincre, il est vainqueur :
On se brouille, on se raccommode.

Vient un rival : autre incommode.
Loin des yeux le sommeil s'enfuit;
Jaloux, on veille, on tourne, on rôde;
Ce n'est qu'alarmes jour et nuit

Après bien des mots et du bruit.
Un baiser finit l'aventure :
Le feu s'éteint, le dégoût suit;
Le pré valoit-il la fauchure?

Kalendergedenken

Kalendergedenken

Das „neue“ Jahr ist in der dritten Woche, ich bin noch in der Planung für das L&Poe-Jahr. Eine thematische Vorgabe gibt es nicht (in der Vergangenheit gab es ein Expressionismus- und ein Autorinnenjahr, mit wenig Resonanz). Man muss weder Gedenken noch gar Lektüre am Kalender ausrichten, aber der Kalender hat den Vorzug, neutral oder wenigstens gerecht zu sein, meinetwegen auch demokratisch. Der Kalender fällt auf Gerechte und Ungerechte, Beliebte und Ungeliebte – wie das Alphabet, nur in etwas anderer Ordnung. Ich habe mich umgesehen. Wie in jedem Jahr gibt es Dutzende, Hunderte „runde“ Jubiläen. Bisheriger Rekord ist ein 900. Geburtstag. Hier eine – kleine – Auswahl aus der Fülle. 

  1. Geburtstag: Yang Wan-li

600. Geburtstag des »(wirklich) letzte(n) trobadour(s)« Jordi de Sant Jordi

550. Geburtstag: Ariost 

500. Geburtstag: Ronsard, Camoës, Johannes Spreng

500. Todestag: Gaspara Murtola (sein Gedichtduell mit Giambattista Marino erschien bei Reinecke & Voß)

400. Geburtstag: Angelus Silesius, Johann Christoph Göring

  1. Todestag: Lasse Lucidor »der Unglückliche«

300. Geburtstag: Klopstock, Kant, Nikolaus Giseke, F K von Creutz

250. Geburtstag: Robert Southey, Caspar David Friedrich (in Greifswald und andernorts groß gefeiert)

200. Geburtstag: Víctor Balaguer, Otto Roquette, Amelie Godin, Heinrich Reder, Karl Reinecke

  1. Todestag: George Byron, Klamer Eberhard Schmidt

150. Geburtstag: August Stramm, Börries von Münchhausen, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Richard Schaukal, Manuel Machado, Elsa von Freytag-Loringhoven, Gertrude Stein, Paolo Buzzi, Robert Frost, Amy Lowell, Henri Barbusse, Emerenz Meier

100. Geburtstag: Ludwig Greve, Yehuda Amichai, Claus Bremer, Zbigniew Herbert, Heinz Kahlow, Stefan Brecht, Bulat Okudschawa, Lucebert, Jerzy Ficowski, Dennis Brutus, Lori Ludwig, Nina Cassian, Michael Hamburger, Tuvia Rübner, Margot Scharpenberg

100. Todestag: Franz Kafka

Und noch ein paar Unrunde:

90. Geburtstag: Rainer Kirsch, Wulf Kirsten, Richard Leising, Uwe Johnson 

90. Todestag: Hermann Bahr

80. Todestag: Wassily Kandinsky, Jizchak Katzenelson

60. Todestag: Konrad Bayer, Emil Szittya

50. Todestag: Marie Luise Kaschnitz, Erich Kästner

40. Todestag: Erich Arendt, Henri Michaux, Uwe Johnson

30. Todestag: Charles Bukowski

Auch Erscheinungsdaten haben Jubiläen. Vor 400 Jahren erschien die berühmte Poeterey von Martin Opitz. Vor 100 Jahren die Anthologie „Verse der Lebenden“. Ebenfalls 1924 erschien die erste Ausgabe des Magazins mit dem schlichten (oder unbescheidenen?) Titel „Das Magazin“. 

Verspricht ein interessantes Jahr zu werden.

Die Krüge

Paul Celan

(geboren am 23. November 1920 in Czernowitz; gestorben vermutlich am 20. April 1970 in Paris) 

Die Krüge
        Für Klaus Demus

An den langen Tischen der Zeit
zechen die Krüge Gottes.
Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden,
die Herzen der waltenden Schatten,
die hohle Wange des Abends.
Sie sind die gewaltigsten Zecher:
sie führen das Leere zum Mund wie das Volle
und schäumen nicht über wie du oder ich.

Aus: Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp, 2018, S. 51 – Das Gedicht entstand im Juni 1949.

Worte

Joan Brossa i Cuervo

(* 19. Januar 1919 in Barcelona; † 30. Dezember 1998 ebenda) 

Worte

Die Sprache hab ich, Fabeln zu erklären
und Geist und Herz durch Namen zu beschwören;
die Lettern formen Worte, die ich reihe
und denen ich durch die Grammatik Sinn verleihe.

In der Gestalt der unverletzten Sprache bildet sich
ein Satz zum Fuß, ein anderer zur Hand;
Namen und Dinge eint ein innres Band.
So, meine Herrn, für heute schweige ich.

Hier habt ihr Sonne, Mond, Haus und Zisterne,
Schatten und Himmel, Regenschirm und Fluß:
ein jedes Wort dem innern Bilde folgen muß;
vom Speichel dessen, der es ausspricht, schweig ich gerne.

Vielleicht, ich weiß es nicht, kommt jener Tag,
da ich das Wort als Wort und doch als freies Ding zu schreiben einst vermag.

(1965/66)

Aus dem Katalanischen von Tilbert Stegmann, aus: Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tàpies. Katalanisch und deutsch. Leipzig: Reclam, 1987, S. 139

Mots

Tinc un llenguatge per a explicar faules
i designar conjurs de cor i ment;
conjunts de lletres formen les paraules
que jo articulo gramaticalment.

Amb l'estructura de la llengua intacta
si una frase és el peu, l'altra la mà;
coses i noms per dins tenen un pacte.
- Senyors, avui no passo més enllà.

Heus aquí lluna, sol, casa, cisterna;
heus aquí ombra, cel, paraigua, riu;
té cada mot la seva imatge interna
a part de la saliva de qui el diu.

Jo no sé pas si un dia podré escriure
el mot en tant que mot i objecte lliure.

Ebd. S. 134

Lyrikkritik 1983

Beim Blättern in alten Ordnern finde ich einen Zeitungsausschnitt aus der Wochenzeitung Sonntag von 1983 mit zwei Gedichten einer jungen Lyrikerin. Am Rand direkt darunter eine Randnotiz in meiner (damaligen) Handschrift. Sonntag ist die DDR-Vorgängerin des heutigen Freitag. Mein Kommentar ist nicht sehr freundlich, ich gebe ihn und den Zeitungsausschnitt einmal unkommentiert wieder.

Wo war ich dieses Jahr nicht überall
Bei Strindberg auf der rauhen Schäre Und
Am Strand von Lesbos wo die Fraun sich tummeln Ich Weltenbummler ohne Paß

Kommentar

narzistisch
Kult d. Hilflosigkeit
= harmlos
denkträge

Grabschrifft und Lobspruch

Heute ein visuelles Gedicht aus dem Jahr 1631. Es stammt von Johann Heinrich Schill aus Durlach bei Karlsruhe. Die digitale Deutsche Biographie nennt als Berufe „Dichter ; Jurist ; Linguist“ und als Lebensdaten 1615 – 1645. Er wurde also nur etwa 30 Jahre alt. Sein Gedicht ist eine Grabschrift auf eine Frau namens Barbara, so lautet die erste Zeile:

Hie ligt mit Frawen Barbara

(Ich habe nur zur besseren Lesbarkeit die Leerzeichen zwischen den Wörtern eingefügt). Hier zunächst das ganze Gedicht.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als bestünde das ganze Gedicht nur aus dieser einen Zeile, die von Zeile zu Zeile um einen Buchstaben nach links gerückt wird. Hier ein Teil des Textes, neu gesetzt und wie im Original ohne Leerraum zwischen den Wörtern.

HieligtmitFrawenBarbara
ieligtmitFrawenBarbaraT
eligtmitFrawenBarbaraTh
ligtmitFrawenBarbaraTha
igtmitFrawenBarbaraThab
gtmitFrawenBarbaraThabe
tmitFrawenBarbaraThabea

Man merkt jetzt schon, dass am rechten Rand ein anderer Text auftaucht, der hinter dem Namen der Verstorbenen Buchstabe für Buchstabe sichtbar wird. 6 Zeilen weiter kann man einen weiteren Frauennamen lesen, und in der letzten Zeile des Buchstabenquadrats ist kein einziger Buchstabe der Eingangszeile mehr vorhanden, aber dafür eine komplette zweite Zeile. Der gesamte Text ist also ein Zweizeiler, man kann bequem die erste und letzte Zeile so lesen:

HieligtmitFrawenBarbara
ThabeaJudithRuthvndSara

Ist es also ein Gemeinschaftsgrab, in dem mit Barbara auch Thabea, Judith, Ruth und Sara begraben sind? Aber vielleicht fällt uns jetzt auf, dass die Namen der zweiten Zeile allesamt in der Bibel vorkommen. Man kann es also vielleicht so lesen, dass die jetzt verstorbene Frau Barbara hier (im Grab liegt ja nur der sterbliche Teil) mit den frommen Frauen aus dem Alten Testament ruht. Wenn wir uns jetzt auf die Überschrift besinnen, war ja zweierlei angekündigt: Grabschrift (= Epigramm, Inschrift) und Lobspruch. Der Lobspruch wäre demnach in der ersten Zeile noch verschüttet und erscheint Buchstabe für Buchstabe, wenn man bemerkt, mit wem Frau Barbara „hier“ ruht. (Wir können davon ausgehen, dass die Leser von 1631 die Geschichten dieser Frauen wenn nicht aus eigener Lektüre der Bibel, dann doch aus den wöchentlichen oder je nach Frömmigkeit auch häufigeren Predigten des Pfarrers kannten. Die damals zehnjährige Sibylla Schwarz aus Greifswald zum Beispiel hätte sie bestimmt gekannt, wenn man den Lobreden auf die Frühverstorbene glaubt. Das tun wir, auch wenn in ihrem Werk nur der Name Judith vorkommt, dieser aber oft. Ich lese also den Lobspruch so, dass die Verstorbene nur körperlich „hier“ liegt, ihre unsterbliche Seele aber bei den Frommen im Himmel weilt. Oder kurz: dass sie fromm war.

So weit erst mal dazu. Die verehrten Leserinnen (kleines i, weil generisches Femininum, jeder ist mitgemeint) werden nun eingeladen, mit den Augen ein wenig im Visuellen des Gedichts herumzuspazieren. Da kann frau Entdeckungen machen. Liest man die Anfangsbuchstaben vertikal, ergibt sich bis zur vorletzten Zeile wieder der erste Vers, was ja nicht verwundert, weil immer ein Buchstabe links wegfällt. Anschließend kann man die letzte Zeile vertikal lesen. Also etwa so:






→→→→→→→

Oder so:

→→→→→→→




Oder auch so:

→→→→→→→

.

.

.

.

→→→→→→→

Wenn man das Innere einbezieht und Haken und Zickzack schlägt, ergeben sich, hat jemand errechnet, mehr als 4 Billionen Wege, um die beiden Zeilen des Gedichts zu lesen. Vielleicht als Meditierhilfe?

2 Zeilen, 8 und 9 Silben und zweimal 23 Buchstaben. Wenig Text und viel Raum.

Die Grabschrift wurde gedruckt, also nicht nur das Gedicht, sondern die ganze Leichpredigt. Als Druckschrift brauchte sie einen Titel, der nach damaligem Brauch sehr lang und sehr gewunden sein musste, hier der fast komplette Titel:

Creutz Saat / vnd Frewden Erndt / der wahren Kinder Gottes. Das ist: Christliche einfältige Leichpredig / genommen auß dem 5. vnd 6. vers. deß 126. Psalm. Bey Begräbnuß Weyland der Edlen vnd Tugendtsamen Frawen BARBARAE, Deß auch Edlen vnnd Hochgelehrten Herrn Johann Friderich Jünglers / beeder Rechten Licentiaten / vnnd Fürstl. Marggr. Bad. Ober: vnd KirchenRaths zu Carlspurg / etc hertzvielgeliebter Haußfrawen. Welche nach außgestandner lang beschwerlicher Kranckheit / Freytags den 28. Octobr. Anno 1631. Morgens vmb halb Sechs Vhr / in jhrem Erlöser Christo seeliglich eingeschlaffen / vnd Sontags den 30. dessen / mit grosser Volkreicher Leichprocession, ehrlich vnd Christlich zur Erden bestattet worden. Auß Gottes heyligem Wort für Augen gestellt / vnnd in der Statt: vnd Pfarrkirchen zu Durlach / fürgetragen worden / Von M Caspare Seemann / Pfarrern daselbsten. Getruckt zu Durlach / durch Andream Senfft / Jm Jahr 1631. 

Und man kann weitergehen. Zum Beispiel die Geschichten der vier biblischen Frauen einbeziehen. Für das Begräbnis ist besonders die erste, Tabea, interessant und folgen-, folgerungsreich. Handelt es sich doch um eine Frau, die gestorben und von den Toten erweckt worden ist. Hier die Stelle.

Apostelgeschichte 9:36-43 HFA

In der Stadt Joppe lebte eine Jüngerin von Jesus. Sie hieß Tabita*. Der Name bedeutet »Gazelle«. Tabita tat viel Gutes und half den Armen, wo immer sie konnte. Als Petrus in Lydda war, wurde sie plötzlich krank und starb. Man wusch die Tote und bahrte sie im oberen Stockwerk ihres Hauses auf. Joppe liegt nicht weit von Lydda. Die Gemeinde in Joppe schickte deshalb zwei Männer mit der dringenden Bitte zu Petrus: »Komm, so schnell du kannst, zu uns nach Joppe!« Petrus ging sofort mit ihnen. Als er angekommen war, führte man ihn in die Kammer, in der die Tote lag. Dort hatten sich viele Witwen eingefunden, denen Tabita in ihrer Not geholfen hatte. Weinend zeigten sie Petrus Kleider und Mäntel, die Tabita ihnen genäht hatte. Doch Petrus schickte sie alle hinaus. Er kniete nieder und betete. Dann wandte er sich der Toten zu und sagte: »Tabita, steh auf!« Sofort öffnete sie die Augen, sah Petrus an und richtete sich auf. Petrus reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen. Dann rief er die Gläubigen und die Witwen herein, die mit eigenen Augen sehen konnten, dass Tabita lebendig vor ihnen stand. Bald wusste ganz Joppe, was geschehen war, und viele fanden zum Glauben an den Herrn. Petrus blieb danach noch längere Zeit in Joppe und wohnte im Haus des Gerbers Simon.

HFA: Hoffnung für alle https://www.bible.com/de/bible/73/ACT.9.36-43.HFA

*) In anderen Übersetzungen Tabea.

Quelle des Gedichts: Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden. Herausgegeben von Walther Killy. Band 4. Gedichte 1600-1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Christian Wagenknecht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001, S. 72.

Gábor Schrein zum 100. Geburtstag von Ágnes Nemes Nagy und der neuen deutschen Übersetzung ihrer Gedichte

Der Perlentaucher weist in seiner Magazinrundschau vom 9. Januar 2024 hin auf eine Debatte, die in Ungarn zum Werk von Ágnes Nemes Nagy geführt wird …

Gábor Schrein zum 100. Geburtstag von Ágnes Nemes Nagy und der neuen deutschen Übersetzung ihrer Gedichte

Nein! Ich gefall mir nicht

Gustaf Gründgens

(* 22. Dezember 1899 in Düsseldorf; † 7. Oktober 1963 in Manila) 

( COUPLET)

Stop!
Ich tret heraus, Ihr glaubt es kaum,
Ich tret heraus aus meinem Traum,
Ich tret aus ihm heraus.
Ich tret aus meinem Traum heraus
Und stell mich leise neben mich
Und sehe wie das Leben sich
Von hier aus präsentiert.
Ich seh mir selber ins Gesicht.
Ich merke, ich gefall mir nicht.
Was ist denn das mit mir?
Stop!
Stop!
Stop!
Stop!
Stop!
Nein!
Ich gefall mir nicht!

Aus: Gustaf Gründgens (1899 – 1963): Gedichte und Prosa, hrsg. von Franz-Josef Weber (Vergessene Autoren der Moderne, hrsg. von Franz-Josef Weber und Karl Riha) Universität-Gesamthochschule Siegen (3. Auflage), Siegen 1987, S. 11.